

Fachthema
Öffnung der Hersteller-Fahrzeugdatenbestände in der EU
Aktuelle EU-Regulierungen zur Förderung von wirksamen Wettbewerbssituationen berücksichtigen zunehmend den Zugang zu Informationen. Innovative Technologien und die fortschreitende Digitalisierung erhöhen die Mengen an automatisiert nutzbaren Informationen. Der exklusive Besitz von Informationsdatenbeständen kann gegenüber Marktteilnehmern einen entscheidenden Vorteil bieten, der aus Sicht der EU zu einer zu regulierenden Wettbewerbssituation führen kann.
Im Markt für unabhängige Fahrzeugreparatur und -wartungsdienste bilden sich solche exklusiven Datenbestände ohne Regulierung unvermeidlich. Auf der einen Seite stehen die Originalfahrzeughersteller (OEM), die zur Wartung ihrer jeweiligen Fahrzeuge umfangreiche Informationen besitzen. Auf der anderen Seite stehen die Akteure des Independent Automotive Aftermarket (IAM), für deren Geschäftserfolg Informationen rund um die OEM-Fahrzeuge eine Basis ihres Geschäftserfolgs darstellen. IAM-Akteure stellen Teile und Dienstleistungen für OEM-Fahrzeuge auf dem freien Markt zur Verfügung.
Fahrzeuginformationen helfen beispielsweise die Fragen zu beantworten, welche Ersatzteile für welche Fahrzeuge unter welchen Bedingungen sich eignen und wie gewisse Wartungsdienstleistungen erbracht werden müssen. Akkurate Teile- und Fahrzeuginformationen sind für diesen Zweck erforderlich. Auf dem freien Markt werden die dafür notwendigen Informationen durch zum Teil aufwendige Recherchen erarbeitet und Fahrzeughersteller-unabhängig privatwirtschaftlich standardisiert.
Die OEMs sind zur Unterstützung des freien Wettbewerbs für neuere Fahrzeugtypen schon seit bald zehn Jahren durch die EU-Verordnung 2007/715 angehalten, die dafür grundlegenden Fahrzeuginformationen ab der Euro-5-Klasse leicht zugänglich anzubieten. Dennoch haben unterschiedliche Auslegungen der EU-Richtlinien und die hohe Anzahl der Akteure auf dem Markt bisher zu keiner vereinheitlichten Nutzung der OEM-Informationen geführt.
Eine umfassende Studie1 aus dem Jahr 2014, die für die EU-Kommission erstellt wurde, beschreibt die Wirkung der bereits zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen EU-Verordnung. Es existieren zwar Zugänge zu den Reparatur- und Wartungsdaten (RMI) der OEMs, die jedoch je Hersteller in den Vertragsmodalitäten, Kostenaufbau, Geschwindigkeiten und den Datenstrukturen sehr spezifisch sind. Aus der Studie leiten sich marktverändernde Anforderungen ab, die sich in der EU-Verordnung 2018/858 widerspiegeln.
Die EU strebt mit der Verordnung einen fairen und wirksamen Wettbewerb für Marktteilnehmer und Verbraucher an, indem die Fahrzeuginformationsdatenbestände der OEMs weitgehend geöffnet werden sollen.

Akteure und Interessen
Im Markt sind verschiedene Akteure und damit unterschiedliche Interessen vertreten. Die unabhängigen Reparaturbetriebe benötigen z.B. Informationen rund um das Fahrzeug wie Diagnosemöglichkeiten, Reparaturanweisungen über diverse Marken hinweg, Bezugsquellen und Verfügbarkeiten von kompatiblen Ersatzteilen und Weiterbildungsmöglichkeiten.
Teilehändler interessieren sich vor allem für eine zuverlässige eindeutige Teileidentifikation. Entspricht diese nicht der gewünschten Qualität, erhöht sich die vermeidbare Rückläuferquote mit allen dadurch entstehenden Kosten.
Unabhängige Teilehersteller haben ein Interesse daran, profitable Ersatzteile zu identifizieren (Marktanalysen) und dann eigene Teile hierfür anzubieten. Eine hochwertige Teileidentifikation unterstützt dabei die beteiligten Prozesse.
Datendienstleister versuchen aus verschiedensten Quellen Daten zu sammeln und für Dritthersteller, Handel und Reparaturbetriebe aufzubereiten. Das Geschäft eines Datendienstleisters befindet sich im Spannungsbogen der Verfügbarkeit von OEM-Daten mit ihren jeweiligen Formaten und der Standardisierung dieser Mehrmarkendaten.
Die OEMs haben natürlich ein Interesse daran, den Aftermarket durch eigene Produkte und Dienstleistungen zu bedienen. Innerhalb von Garantiezeiträumen wird diese Leistung in der Regel durch den Hersteller selbst durchgeführt und kann danach lohnend weitergeführt werden. Die Weitergabe der Reparatur- und Fahrzeuginformationen an den gesamten Markt erhöht den Wettbewerb mit Akteuren des IAM.
Das Wesentliche der EU-Verordnung 2018/858 für den IAM
Die EU-Verordnung 2018/8582 definiert die Regeln zur Typzulassung von Kraftfahrzeugen und tritt ab September 2020 in Kraft. Neben neuen Testverfahren und regelmäßigen Überprüfungen als Konsequenz aus dem Dieselskandal werden in Artikel 61 die Regeln der Fahrzeugdatenzugänge der OEMs nun präziser bestimmt.
So werden europäische Fahrzeughersteller verpflichtet, unbeschränkten, standardisierten und maschinenlesbaren Zugang zu Reparaturund Wartungsinformationen über das Internet zur Verfügung zu stellen. Es wird auch verordnet, dass die Daten selbst in einem vereinheitlichten Format vorliegen müssen. Die elektronische Verarbeitbarkeit des maschinenlesbaren Formats soll mit gängiger Software erreicht werden können und insbesondere auch den Akteuren zur Verfügung stehen, die keine Reparaturbetriebe betreiben.
Zudem dürfen für die Zurverfügungstellung der Daten durch die OEMs Gebühren in einem angemessenen Rahmen erhoben werden (Artikel 63). Sollten diese Bestimmungen nicht eingehalten werden, dürfen Genehmigungsbehörden Bußgelder verhängen oder Typzulassungen widerrufen (Artikel 65).
In Anhang X der Verordnung sind konkrete Anforderungen definiert. Abschnitt 6.1. zeigt die zukünftige Entwicklung der Fahrzeugdatenpflege. Zentral ist hierfür die Rolle der VIN (Vehicle Identification Number) als Identifikationsnummer für einen zentralisierten Fahrzeugstamm. Jeder Hersteller muss unter diesem globalen Schlüssel Merkmale in einer leicht zugänglichen Datenbank bereitstellen, worin Inhalte wie Motorleistungen, Varianten oder Radstände genauso wie Originalteilnummern, Gültigkeitsangaben oder Einbaumerkmale fallen. Damit werden sowohl die Identifikationsmerkmale der Fahrzeuge als auch die damit verbundenen Teileinformationen umfassend zentral vom jeweiligen Hersteller bereitgestellt.
Da derzeit noch keine Norm für strukturierte Reparaturdaten vorgenommen und erlassen wurde, wird ein Normungsgremium wie das Europäische Komitee für Normung (CEN) hiermit beauftragt werden. Solange diese Norm noch nicht existiert, sind die OEMs angehalten, die Daten leicht zugänglich und mit angemessenem Aufwand verarbeitbar anzubieten. Dies betrifft die Daten von heute über 250 Mio. Fahrzeugen in Europa.
Langfristiger Einfluss auf den Markt
Wenn die Umsetzung inklusive der Normung von Fahrzeugdaten entsprechend der Verordnung umgesetzt ist, wirkt sich dies langfristig betrachtet auf viele Ebenen aus.
So kann in einem Reparaturbetrieb anhand einer VIN bei einem Fahrzeug direkt auf exakt passende Ersatzteile oder Reparaturpositionen geschlossen werden. Es bedarf nicht erst einer Fahrzeugzuordnung anhand von diversen Identifikationsmerkmalen mit alternativ am Markt befindlichen Fahrzeugstämmen von Datendienstleistern, um die in Frage kommenden Ersatzteile zu ermitteln. Somit können Retouren aufgrund von Unsicherheiten, ob ein Teil in das jeweilige Fahrzeug passt, minimiert werden. Dies stellt ein zentrales Interesse des Ersatzteilhandels dar.
Das Wissen über die Originalteile in allen im Markt befindlichen Fahrzeugen erlaubt Teileherstellern deutlich gezieltere Aussagen über Wirtschaftlichkeit und unterstützt die Vermarktung ihrer Teile über Verknüpfungen direkt an VIN und Originalteil-Nummern (OE-Nummern). Es können zudem exakt alle im Betrieb befindlichen Fahrzeuge ermittelt werden, die ein bestimmtes Teil eingebaut haben.
Für OEMs sind die bereits bestehenden Systeme zur Freigabe der Daten auszubauen. Dies betrifft Service Levels, Vertragsmodalitäten, Überführung von Daten in neue Normungen und die Neugestaltung von Gesamtfahrzeugdatenbanken zur Veröffentlichung.
Derzeit ist noch nicht absehbar, wie stark die Normung der Daten ausfällt. Es könnte eine Ergänzung zu den Normenreihen ISO 18541 und ISO 18542 werden, die auf ein Mandat der Europäischen Kommission zu den bisherigen EU-Verordnungen zurückgehen. Bei einer zukünftig umfassenden und tiefgreifenden Normung unter Berücksichtigung der Interessen von Teileherstellern, Handel und Reparaturbetrieben, werden Datendienstleister multilaterale Verhandlungen mit den verschiedenen OEMs übernehmen und die gesammelten Informationen weitervertreiben. Dies verringert somit die Vertragsverhandlungen zwischen den Parteien für Kunden der Datendienstleister unter dem Preis von möglicherweise etwas verzögerter Datenbereitstellung. Der heute hohe Aufwand zur Harmonisierung wäre jedoch deutlich geringer.
Falls die zukünftige Norm sehr allgemein definiert wird, muss zur Nutzung der Daten insbesondere bei Mehrmarkenbedarf weiterhin mit hohem Harmonisierungsaufwand gerechnet werden. Dann ist zu vermuten, dass es auch kein markteinheitliches neutrales Datenformat geben wird. Technologien aus den Bereichen Big Data und Machine Learning bieten hierfür heute bereits Lösungsmöglichkeiten. ISB AG ist durch die langjährige Erfahrung im Automotive Aftermarket und dem technologischen Know-How der ideale Partner zur Umsetzung derartig herausfordernder Anforderungen.
Sicher ist, dass die Verfügbarkeit zusätzlicher Daten die Qualität von bisherigen Anwendungen verbessert und bisher unbekannte neue Anwendungsfelder eröffnen kann. Langfristig bietet die Verbindung zu Fahrzeugtelematikdaten weitere Chancen auf eine Umgestaltung des Marktes.
Aus der EU-Verordnung ergeben sich also eine Vielzahl an Veränderungen und Fragestellungen mit Auswirkungen auf aktuelle Geschäftsprozesse. Für die Herausforderungen rund um die Öffnung der dynamischen OEM-Fahrzeugdatenbestände steht ISB AG individuell beratend an Ihrer Seite.